32 Jahre Wiedervereinigung – wie steht es um die Deutsche Einheit?

Ein Beitrag unserer Landesvorsitzenden Ann-Sophie Bohm

„Ich bin im Jahr 1993 geboren. Manch einer könnte denken, dass ich als klassisches „Nachwendekind“ keine Berührungspunkte mehr mit „dem Osten“ und „dem Westen“ gehabt hätte. Na klar, zu Hause wurde noch viel über die DDR gesprochen, schließlich ist meine Eltern- und Großelterngeneration in diesem Staat aufgewachsen und maßgeblich sozialisiert worden. Doch während ich zur Schule ging und schließlich Abitur machte, spielte die ehemalige deutsch-deutsche Teilung in meinem Leben im Großen und Ganzen keine Rolle. Lange Zeit war ich daher der Meinung, die Deutsche Einheit sei vollzogen und man solle doch aufhören, noch von „Ost“ und „West“ zu reden.

Dann ging ich an die Uni. In Halle, wo ich studierte, merkte ich schließlich erstmals, dass unser Land wohl doch nicht so wiedervereint ist, wie ich immer dachte. Mir fiel auf, dass es insgesamt wenig westdeutsche Studierende gab, die sich zu uns in den Osten trauten. Ein Kommilitone aus dem Rheinland erzählte gar vom großen Entsetzen seiner Familie, als er mitteilte, dass er zum Studieren in den Osten ziehen wird. Zudem war es augenscheinlich, dass der Anteil der Bafög-Empfänger*innen unter meinen ostdeutschen Kommiliton*innen wesentlich höher war als bei denen aus Westdeutschland. Letztere stammten überwiegend aus gutsituierten Familien des Bildungsbürgertums und bekamen ihren Lebensunterhalt von den Eltern statt vom Staat überwiesen. Diese Beobachtung deckt sich auch mit den Statistiken: natürlich ist nicht nur die Zahl der Erststudierenden in der Familie (sogenannten „Arbeiterkindern“) im Osten höher, Westdeutsche erben auch häufiger und mehr: die durchschnittliche Erbsumme liegt im Westen immer noch fast zwei mal so hoch wie im Osten.

Ich begann also, mich tiefer mit der Thematik der deutsch-deutschen Teilung und der Wiedervereinigung zu beschäftigen. Bis heute treibt mich, die sich immer auch als Ostdeutsche identifiziert hat, der Wunsch an, die tiefen Wunden zu verstehen, die die DDR und der Prozess der Wiedervereinigung bei vielen Menschen im Osten hinterlassen hat. Denn diese sind bis heute sichtbar. Das verwundert nicht. Viele Menschen hier sind jahrzehntelang in einer Diktatur aufgewachsen, die ihnen freie Meinungsäußerung, freies Reisen und überhaupt die freie persönliche Entfaltung verweigerte. Die Menschen haben sich durchgeschlagen, etwas aufgebaut, das kleine Glück im Privaten, eine so gut es geht heile Welt in einem weitgehend ungeregelten zu Hause. Und zur Wahrheit gehört auch dazu: viele Menschen haben sich in der DDR gut arrangiert und einige Aspekte des Zusammenlebens zu schätzen gelernt. Doch die Unzufriedenheit wuchs. Die friedliche Revolution, die die Bürgerinnen und Bürger daraufhin aus eigener Kraft vollzogen haben, bleibt bis heute eine der größten Errungenschaften der Geschichte. Die darauf folgende, sehr schnelle und in einigen Bereichen brutal neoliberal vollzogene Wiedervereinigung brachte den Menschen große Einschnitte. Für einige war es die Chance, endlich frei zu sein, für andere war das bisherige Lebenswerk zerschmettert und der Neuanfang mühsam und unfreiwillig. Biografische Entwertung nennen die Fachleute diese Mischung aus Arbeitsplatzverlust und Abwertung des bisher Erlebten und Erreichten. Ich denke, für uns alle, die bisher in einem stabilen politischen und wirtschaftlichen System aufgewachsen sind, ist es kaum nachvollziehbar, wie viel Kraft, Mut und Zuversicht diese Transformation viele Menschen im Osten gekostet haben muss.

Als Landesvorsitzende bin ich viel im Land unterwegs und komme mit Menschen ins Gespräch. Auch der Austausch mit westdeutschen Kolleg*innen gehört selbstverständlich zu meinen Aufgaben. Dort merke ich, dass viele Westdeutsche „die Ossis“ bis heute nicht wirklich verstehen. Und die Unterschiede sind noch immer größer als gedacht. Nicht nur die Vermögensverteilung ist extrem ungleich, wie uns schon die unterschiedlichen Erbsummen verraten, auch das Einkommen: während die Quote der Geringverdiener*innen im Westen bei gut 20 Prozent liegt, ist sie im Osten bei fast 30 Prozent. Überdurchschnittlich viele Kinder sind im Osten von Armut betroffen. Der Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen liegt bei unter fünf Prozent. Noch immer gibt es niedrigere Renten und Tarifverträge im Osten. Angesichts dieser Zahlen verwundert es nicht, dass sich die Mehrheit der Ostdeutschen (57 Prozent) als Bürger zweiter Klasse fühlen.

Die Erfahrungen der Wiedervereinigung, die Entwertung des bisher Geleisteten und das Herabsehen mancher Westdeutscher auf „die Ossis“ ist eine bis heute tief sitzende Erfahrung. Es gibt im Osten ein anderes, tiefes Erleben von Ungerechtigkeit. Die Demokratiezufriedenheit im Osten liegt mit 22 Prozent nur knapp halb so hoch wie im Westen. Viele fühlten sich rund um die Wiedervereinigung allein gelassen und auf sich gestellt, erlebten sogar, wie andere, vor allem Westdeutsche sind auf ihre Kosten bereicherten (Stichwort Treuhand). Und nun, da wir wieder vor einer großen Krise stehen, kommen alte Ängste wieder hoch. Auch der Blick auf die Zahlen der Einkommenssituation verrät: für viele hier geht es nicht nur um die Angst, wieder hinter herunterzufallen, sondern auch um die Existenz.

Natürlich entschuldigt das alles nicht, dass Menschen hier mit Rechtsextremen und Querdenkern zusammen auf die Straße gehen, dass Morddrohungen gegen Politiker*innen und Umsturzfantasien groß gemacht werden. Es hilft vielleicht lediglich zu verstehen, warum manche Menschen handeln, wie sie handeln. Klar wird aber vor dem Hintergrund der DDR-Sozialisierung auch, dass das Erlernen von demokratischen Diskursen und politischer Beteiligung kein Selbstläufer ist und weitere Anstrengungen benötigt.

Und jetzt – alles schlecht nach der Wende? Mitnichten. Denn auch wenn die deutsche Wiedervereinigung langsamer vorangeht als gedacht, ist sie doch ein großer Erfolg für Deutschland. Denn auch zwei Drittel der Ostdeutschen sagen, dass es ihnen materiell nun besser geht. 80 Prozent sagen, dass sie die friedliche Revolution für einen großen Glücksfall halten. 9 von 10 Deutschen halten die Wiedervereinigung für einen Erfolg. Deutsche wollen vereint sein. Daran müssen wir anknüpfen, und die faktische Vereinigung weiter voranbringen: mit mehr Ostdeutschen in Führungspositionen, höheren Löhnen und Renten und einer stärkeren Beachtung im Diskurs. Und vor allem gibt es auch einiges, was der Westen vom Osten lernen kann: die hohe Frauenerwerbsquote, das gut ausgebaute Kindergartennetz und die in der DDR sehr liberal angelegte Regelung für Schwangerschaftsabbrüche beispielsweise. Denn das ist wichtig für ein weiteres Zusammenwachsen: die Begegnung auf Augenhöhe und die Anerkennung, dass die Menschen im Ostdeutschen viel geleistet haben.“


Quellen