Geduld und Spucke 26. November 20218. Dezember 2021 Überall in unserer Gesellschaft, in Bund und Land, im Landkreis, in der Gemeinde, im Unternehmen, in der Familie und im Freundeskreis gibt es jetzt im Spätherbst wieder nur ein Thema. Wir warten, wir hoffen, wir diskutieren, wir beschwören und schimpfen das Ende von Corona herbei. Wir wollen, dass es endlich verschwindet und wir alle wieder unser vorheriges Leben zurückerhalten. Dabei werden überall, auch in Talkshows, in politischen Gremien oder Seminaren Lösungen diskutiert, die einfach, klar und durchführbar wären, wenn nur alle dies oder jenes machten, dies oder jenes nicht machten. Wir warten wechselweise darauf, dass entweder Machtworte gesprochen werden, oder mehr Demokratie gewagt wird, dass die Parlamente oder die MPK oder doch die scheidende Bundeskanzlerin endlich durchgreift oder endlich abtritt oder, oder, oder… Kurz: wir warten auf Godot. So nannte Samuel Beckett einen unbekannten Menschen, der uns endgültig herausführen wird aus unserem Elend und auf den wir warten. Aber Godot kommt nicht! Dabei wird die Stimmung immer aufgeheizter, vorwurfsvoller, aggressiver. Wir entfremden uns auf der Arbeit von Kollegen oder im privaten Bereich von Freunden, von Familienmitgliedern, die andere Lösungen vorschlagen oder unseren Lösungsangeboten kein Gehör schenken. Und am schlimmsten sind natürlich die, die die Krise leugnen, die nicht an die Impfung „glauben“, die wissenschaftliche Erkenntnisse nach sieben Milliarden Impfdosen immer noch bezweifeln und deren hochprozentige Ungefährlichkeit bestreiten. Und natürlich wird Schuld hin und her geschoben. Schuld an Infektionen und Quarantänemaßnahmen, an Schließungen von Einrichtungen, an verschobenen Operationen – die Aufzählung wäre beliebig fortsetzbar. Die Medien pushen das Ganze noch, es herrscht ein wahrhaftig babylonischer Stimmenwirrwarr. Wir werden überschwemmt von Expertisen, von Appellen, von dramatischen Beschwörungen, von aggressivem Leugnen, von gefährlichen Demonstrationen und Empörung von allen Seiten. Und es wird dabei so getan, als ob es eine solche Krise noch nie gegeben hätte, eine Krise, die die ganze Welt betrifft, auf die niemand vorbereitet war und auf die bisher auch noch niemand auf der Welt ein Patentrezept gefunden hat – auch nach nunmehr zwei Jahren nicht. Und letzteres stimmt auch. Denn die Versprechungen wurden allesamt nicht eingehalten. Die Impfungen sind nicht so wirkungsvoll, wie prognostiziert. Die Impfbereitschaft ist niedriger als erwartet. Die epidemische Notlage ist nicht vorbei, ob wir sie nun so nennen wollen oder nicht. Wir werden entgegen allen Beteuerungen und Erwartungen wieder ein Weihnachten im Lockdown oder Quasi-Lockdown erleben mit eingeschränkter Reisefreiheit, Kontaktbeschränkungen und ohne Gruppenvergnügungen. Und auch das Mantra aller Parteien im Bundestag („Mit uns wird es keine Impfpflicht geben“) wackelt. Und auch das aus guten Gründen, die nicht alle teilen werden. Wir können sicher festhalten, dass es momentan keinen Masterplan gibt. Wir können festhalten, dass es so schlimm ist, wie es spätesten seit August/September prognostiziert wurde – davor hatte sich die Delta-Variante noch nicht so durchgesetzt und die Impfquote war noch hoffnungsvoll. Die Wissenschaft irrt sich empor. Das ist kein Fehler, sondern das Prinzip der Wissenschaft. Es gab so schnell wie niemals zuvor wirksame und ungefährliche Impfstoffe. Das ist eine Meisterleistung. Sie sind wirksam, aber leider nicht so wirksam wie gedacht. Diese Geschwindigkeit aber macht viele Menschen misstrauisch. Menschen, die sich aus vielleicht guten Gründen schwerer tun mit Vertrauen in die Pharmaindustrie, in den Staat oder in das Manipulieren von Leben. Diese Menschen nehmen ihr (bisheriges) Recht war, nämlich sich nicht impfen zu lassen. Damit behindern sie gleichzeitig den Impffortschritt. Und das wiederum verschlimmert die Gesamtsituation. Kein triviales Problem, sondern eines das an die Grundspannungen unserer Demokratie rührt: das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Individualismus wird auf dem afrikanischen Kontinent eine Haltung genannt, die die eigene Freiheit über die Bedürfnisse der Gemeinschaft stellt. Viele betrachten es als eine Krankheit der westlichen Welt. Es ist aber eine Haltung, die auch mehr Selbstverwirklichung, mehr Selbstbestimmung, mehr Selbstbewusstsein hervorbringt. Auch – und das ist nicht unwesentlich in unserem Zusammenhang – auch vielmehr Konsum und mehr CO2. Dieser Individualismus hindert uns daran, eine Impfpflicht einfach zu verordnen, oder Ausgangsbeschränkungen oder was sonst zu einem Lockdown gehört. Er gehört zu unserem Selbstverständnis. Und deshalb sollten wir auch vorsichtig sein anderen vorzuwerfen, wenn sie ihre Rechte wahrnehmen wollen. Wir sollten in der Sache klar bleiben, aber nicht vergessen, wie oft die Politik, die Wissenschaftler, die Ethikkommission sich korrigieren mussten. Und wie oft wir Vielen – wie wir uns gerne nennen, um unsere Weltoffenheit und Vorurteilslosigkeit zu dokumentieren – wie oft wir uns getäuscht haben. Wir sollten selbstkritisch und präzise feststellen, wann wir unsere „gesicherten“ Erkenntnisse kassiert haben und wie wenig wir das nach Außen betont haben. Wir sollten geduldig mit denen bleiben, die noch rechthaberischer, noch verbohrter oder noch unsicherer und ängstlicher sind als wir. Wir sollten es um unser Selbst willen tun, damit wir nicht verbittert werden, sondern geduldig weiter dafür werben können, die eigenen Bedenken um der Sorge für die anderen etwas zurück zu stecken, damit wir durch die nächsten Monate kommen. Und wir sollten so gelassen wie möglich die Einschränkungen ertragen, die jetzt auf uns zu kommen. Wir sollten unsere Resilienz weiter erhöhen und uns nicht von der Empörung anstecken lassen – nicht von der berechtigten, auch nicht von der unberechtigten. Denn wir werden diese Resilienz und diese Gelassenheit dringend brauchen. Seit gestern ist eine neue Variante im Gespräch, ansteckender als die Delta-Variante: B.1.1.529. Sie ist bereits angekommen in Europa. Die WHO stuft sie als besorgniserregend ein. Und die von uns allen geschätzte Maja Göpel sagt, dass Corona im Vergleich zur Klimakrise Pillepalle ist. Nicht Empörung, nicht Rechthaberei, sondern Resilienz und Beharrlichkeit, Geduld und Spucke – das ist es, was wir brauchen! Ein Beitrag von Landessprecher Bernhard Stengele