Digitaler Feierabend: „Thüringen – Rechtes Herz Deutschlands?“

In unserem dieswöchigen digitalen Feierabend beschäftigte sich unsere Landessprecherin Ann-Sophie Bohm mit dem Thema Rechtsextremismus in Thüringen, wie die Ausmaße einzuordnen sind und wie man gegen rechtsextremistisches Gedankengut auf verschiedenen Ebenen vorgehen kann. Dabei waren neben unseren Zuschauer*innen auch die folgenden eingeladenen Expert*innen zu Gast: Madeleine Henfling, Abgeordnete der grünen Landtagsfraktion in Thüringen, der Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Dr. Martin Thüne und Franz Zöbel, Projektkoordinator der Beratungsstelle „EZRA“ für Betroffene von rassistischer Gewalt.

Dass man sich in Thüringen mit Rechtsextremismus beschäftigen muss, machte Ann-Sophie bereits anfangs anhand von Daten des repräsentativen Thüringen Monitors deutlich. Danach sei Deutschland aus Sicht von 44% der Befragten „gefährlich überfremdet“. Etwa die Hälfte der Menschen, die dieser Auffassung sind, sind zudem überzeugt von der Existenz „werten“ und „unwerten“ Lebens. Franz Zobel, der seit zehn Jahren für EZRA Betroffene betreut, nannte Zahlen, die eine ähnliche Sprache sprechen. Besonders seit 2015 eskaliere in Thüringen die Zahl rassistischer Übergriffe. Der Höchstwert von 220 Übergriffen wurde 2018 erreicht. Dazu schätzt EZRA anhand weiterer ihr vorliegender Quellen die Dunkelziffer, gerade im ländlichen Raum, als deutlich höher ein. In den Städten sind besonders die öffentlichen Verkehrsmittel Hotspots rechtsextremistischer Übergriffe, wie rassistische Anfeindungen in der Erfurter Straßenbahn auch am vergangenen Wochenende nochmals bestätigten. Aus seiner Sicht war die Frage, ob Thüringen das rechte Herz Deutschlands wäre, klar mit „ja“ zu beantworten.

Die Gründe dafür sind laut Ezra vor allem struktureller Natur. Die Justiz würde Taten mit rechtsextremistischen Motiven nicht ausreichend strafrechtlich verfolgen, überall würde man auf institutionellen Rassismus innerhalb der Polizei treffen. Und auch beim Verfassungsschutz würde der Quellenschutz über einer tatengerechten Strafverfolgung stehen. Daran habe sich auch zehn Jahre nach der NSU-Selbstenttarnung wenig geändert.

Ansätze für die Bekämpfung von Rechtextremismus gäbe es auch Sicht von Franz Zöbel genug. Eine Schwerpunksstaatsanwaltschaft zur Hasskriminalität, eine Berichtspflicht für die Staatsanwaltschaft an das Justizministerium, unabhängige Polizeivertrauensstellen mit genügend Ressourcen oder die Aufklärung über den NSU im Lehrplan der Polizei-Ausbildung.

Den Frust, den alle drei Diskussionspartner*innen teilten, bezog sich dabei mehr auf die Umsetzung dieser Lösungsansätze. Aus der Sicht Madeleine Henfling liegt das Problem nicht in der Ressourcenausstattung, sondern in der Priorisierung. Die Landesregierung habe es bis jetzt schlicht versäumt, eine Gesamtstrategie gegen Rassismus zu entwickeln, die alle Ministerien mit einbeziehen würde. Dabei unterstütze sie die Vorschläge Franz Zöbels, plädierte aber auch dafür, sich mit den Ursachen rechtsextremistischer Tendenzen in Thüringen zu befassen. Dabei sollten auch Maßnahmen ausgearbeitet werden, die dabei helfen könnten, die Menschen auf den „demokratischen Boden“ zurückzuholen.

Auch aus der Sicht von Polizeiwissenschaftler Dr. Martin Thüne wurde in den letzten drei Jahrzehnten viel zu wenig gegen Extremismus agiert: „Mir geht manchmal fast die Puste aus. (…) Die Vorschläge liegen alle auf dem Tisch und es ist nichts gekommen.“ Aus seiner Sicht könnte Thüringen sich mit seiner rot-rot-grünen Landesregierung als Vorreiterin gegen Extremismus mit einem Gesamthandlungskonzept profilieren. Mit Bildungs- und Aufklärungsangeboten inkl. Expert*innen innerhalb der Justiz müsse man in den Behörden für das Thema sensibilisieren.

Dabei sieht Dr. Martin Thüne politische Bildung als ein Hauptmittel zur Rechtsextremismus-Prävention. Bei den Bildungsangeboten liegt Thüringen im Länder-Vergleich jedoch ganz hinten. In den Schulen müsse man bereits früh Aufklärungsarbeit über Demokratie leisten. Und in den Polizeistellen müsse man mit Kampagnen gegen den Extremismus vorgehen, wie es andere Bundesländer bereits vormacht wird.

Nach 90-minütiger Diskussion setzte Ann-SophieBohm keinen Schlusspunkt, sondern hinter die Frage des Abends, ob Thüringen das rechte Herz Deutschlands sei, ein klares Ausrufezeichen. Nicht jedoch ohne die Wege und Instrumente nochmals zusammenfassen und aufzuzeigen, die ergriffen werden müssen.