Chancengeber*innen – Ein besonderes Programm für besondere Zeiten

Die Coronakrise fordert uns als Gesellschaft heraus. Manche Bereiche sind stärker von den notwendigen Einschränkungen getroffen. Zur Bewältigung der Krise brauchen wir unser ganzes kreatives Potenzial. Neue Wege zu gehen, ist das Gebot der Stunde. Wir müssen nun besonders klug schauen, wie wir die Bildung und Betreuung unserer Jüngsten in Kindergärten und Schule sowie pflege- oder betreuungsbedürftigen Älteren in den durch Infektionsschutz eingeschränkten Einrichtungen sicherstellen und das pädagogische bzw. pflegerische Fachpersonal entlasten. Gleichzeitig sind viele selbstständige Künstlerinnen und Künstler für die nächste Zeit durch die Kontaktbeschränkungen und Verfügungen von einem auskömmlichen Einkommen abgeschnitten. Was liegt näher, als diese beiden Umstände zu einer „Win-Win-Situation“ zusammenzubringen?

Das Thüringer „Sonderprogramm Chancengeber*in“ soll in den nächsten 12 Monaten, beginnend ab Januar 2021, selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern ermöglichen, in den Tätigkeitsfeldern der Thüringer Sozial- und Bildungseinrichtungen als zusätzliche Kräfte auf dem Gebiet der kulturellen Bildung und Teilhabe tätig werden zu können bzw. ihr bestehendes dortiges Engagement auszubauen. Dafür sollen rund 500 interessierte Künstler*innen als Chancengeber*innen auf Honorarbasis zusätzlich zu den staatlichen Hilfen mit bis zu 1.000 Euro pro Monat für maximal 12 Monate beschäftigt werden, zusätzlich zu den Hilfen, die Bund und Land bereitstellen. Die Kosten von rund 6,5 Millionen Euro sind eine einmalige Investition in die Zukunft.

Die professionelle Verbindung zwischen Kulturarbeit und Sozialer Arbeit ist nicht neu – aber neu in ihrer Vielfältigkeit und der Möglichkeit sich in der Coronakrise solidarisch zu zeigen, Türen zu öffnen und Mehrwerte auf vielen Seiten zu schaffen.

Der Nutzen für die Menschen in den Einrichtungen:

Die persönliche Eignung vorausgesetzt, können kreative Menschen mit ihren künstlerischen Fähigkeiten den Alltag in einem Kindergarten, einer Schule, einem Pflegeheim oder einer Einrichtung der Eingliederungshilfe bereichern. Kinder leben von den Impulsen und Anregungen, die Erwachsene mit ihrer Persönlichkeit und ihren Kompetenzen einbringen. Der Thüringer Bildungsplan benennt explizit die zu fördernden musischen und gestalterischen Dimensionen als eigenen Bildungsbereich.

Für betreuungsbedürftige Menschen in Einrichtungen der Alten- und Eingliederungshilfe sind künstlerische Aktivitäten wichtig für ein positives Lebensgefühl, für den Ausdruck eigener Emotionen und schöpferischen Selbstwirksamkeit. Soziale Einrichtungen sind es bereits gewohnt, zusätzliche Kräfte wie Bundesfreiwillige, FSJler*innen, Honorarkräfte oder Ehrenamtliche in die Abläufe zu integrieren. Das sorgt im angespannten Alltag auch für eine Entlastung des Personals. Die zunehmende Einschränkung des Handlungsrahmens des Personals durch Quarantänen, Krankheit und besondere Hygieneanforderungen bringt das bereits vor Corona strapazierte System an die Grenzen.

Das Programm schafft es in seiner Wechselwirkung, nicht nur den Künstler*innen eine Chance zu geben, sondern in Verbindung mit dem Fachpersonal der jeweiligen Träger und ihrer Einrichtungen, insbesondere zu Pflegenden, den zu Betreuenden, der zu Unterstützenden sowie Kindern und Jugendlichen, mit vielfältigen kulturellen Angeboten bessere Zugänge zu Bildung und zu gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen. Auf diese Weise finden beispielsweise Jugendliche in einem Studio ihr neues „Zuhause“, Senior*innen finden künstlerische Räume des „Erinnerns“. Die Projekt- und Angebotslandschaft ist groß, vielfältig und bunt.

Der Nutzen für die Künstlerinnen und Künstler:

Wir erleben momentan eine beispiellose Einschränkung der beruflichen Möglichkeiten für soloselbstständige Künstlerinnen und Künstler, die auf Honorare aus Konzerten, Aufführungen, Lesungen oder Ausstellungen angewiesen sind. Diese unverschuldete, unplanbare Notlage braucht gesellschaftliche Solidarität. Das Programm kann zwar die stark eingeschränkte Ausübung künstlerischer Kernkompetenzen nicht ersetzen, bietet interessierten Künstler*innen aber dennoch eine Chance auf zusätzliches Einkommen bei gleichzeitiger Deckung eines dringenden gesellschaftlichen Bedarfs. Die Selbstwirksamkeitserfahrungen versprechen ein wirksames Mittel gegen das Gift der Resignation und Zukunftsangst. Das Programm ist nicht als Ersatz für notwendige finanzielle Hilfen des Staates für entgangene Aufträge zu verstehen, sondern als Schaffung einer Perspektive und eines neuen Tätigkeitsfeldes auch jenseits des Einkommensausgleichs. Daneben geht es auch um neue Impulse der kulturarbeiterischen Praxis innerhalb der Felder Sozialer Arbeit. Damit trägt das Programm „Chancengeber*innen“ auch der viel geforderten Kooperation und Multiprofessionalität Rechnung. Im Rahmen des Programms nehmen und schaffen sich Kulturschaffende und Menschen in sozialen Einrichtungen gemeinsam eine Bühne oder bauen sich diese selbst.

Das Programm sollte durch begleitende Fortbildungen und Austausch sowie durch eine formative Evaluation begleitet werden. Die Administration soll so einfach wie möglich, z. B. durch Antragstellung der Einrichtungen und ein Bewerbungsportal für die Künstler*innen realisiert werden. Die dringliche Situation macht eine zeitnahe Umsetzung nötig.

In einer gemeinsamen Initiative haben der Thüringer Landesverband von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN, Der Paritätische Wohlfahrtsverband (Der Paritätische) Landesverband Thüringen e.V. und der Kulturrat Thüringen eine Initiative für ein branchenübergreifendes Programm zur Stärkung von kultureller Teilhabe in Coronazeiten entwickelt. Der Impuls entstand bei den GRÜNEN in Jena durch die kultur- und bildungspolitisch engagierten Stadträte Ines Morgenstern und Wolfgang Volkmer.


Ansprechpartner*innen:

Bernhard Stengele, Landessprecher BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen 

Jonas Zipf, Präsident des Kulturrates Thüringen

Stefan Werner, Landesgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbandes Thüringen e.V.