„In Deutschland findet derzeit keine Verkehrswende statt“

Rückblick auf den Digitalen Feierabend vom 12. Oktober 2022 „Das 9-Euro-Ticket: Impuls für die Mobilitätswende?“

Beinahe fünf Monate ist der Beschluss für die Einführung des 9-Euro-Tickets jetzt her. Was damals bestenfalls hoch ambitioniert und vielleicht auch ein wenig realitätsfern zu sein schien, wird uns wohl nicht so bald wieder verlassen – auch wenn es ein 9-Euro-Ticket auf diesem Preisniveau wohl nicht noch einmal geben wird. Trotzdem konnte man aus diesem Sommer doch einige Lehren ziehen. Ob und inwiefern das 9-Euro-Ticket ein Impuls für die Ausgestaltung der Mobilitätswende sein kann und muss, diskutierten am 12. Oktober 2022 unsere Landessprecherin Ann-Sophie Bohm, Laura Wahl (MdL und verkehrspolitische Sprecherin), Olaf Behr (Vorsitzender des Fahrgastverbands PRO BAHN Thüringen e.V.) und Tilman Wagenknecht (Geschäftsführer vom Verband Mitteldeutscher Omnibusunternehmen.)

Aus Sicht der Fahrgäste, die an diesem Abend durch Olaf Behr (PRO BAHN Th. e.V.) vertreten waren, habe das Ticket trotz anfänglicher Zweifel eindeutig einen Nerv getroffen – durch seine Einfachheit. Auch wenn anfängliche Zustände dem Fahrerlebnis nicht gerade förderlich waren und die erhebliche Belastung des Personals nicht zu ignorieren seien. Im Moment, so Behr, sind wir in einer Zeit in der Weichen gestellt werden. Dabei verwies er auf den in diesem Jahr geplanten Entwurf zur  Fortschreibung des Nahverkehrsplans, die ein entscheidendes Instrument zur Weiterentwicklung darstelle. Als Fahrgastverband vermisse man derzeit am meisten den Willen zur Gestaltung, an deren Stelle nur noch die Verwaltung stehe.

Die Sichtweise der Unternehmen dagegen ist eine andere, wenn auch keine gegensätzliche. Tilman Wagenknecht (Geschäftsführer des MDO) bezeichnete das 9-Euro-Ticket als größtes verkehrspolitisches Experiment der Neuzeit, welches an vielen Grundfesten gerüttelt habe. Als Erfolg könne man das Ticket bezeichnen, da es gezeigt habe, dass Politik, wenn sie es denn wolle, handlungsfähig sei.

Festgestellt wurde, dass die Lage Thüringens beim Thema der Verkehrswende keine leichte ist. Denn: nirgendwo ist genau festgeschrieben wie eine Verkehrswende im ÖPNV auszusehen hat, diese sei nicht einmal konkret als Ziel festgelegt. Etwas drastischer formulierte ein Vertreter des VMT so, aktuell fände weder in Thüringen noch Deutschland eine Verkehrswende statt.  Das Gegenteil sei eher der Fall, immer mehr Menschen fahren ein Auto, es wird noch immer klimaschädlich subventioniert und notwendige Investitionen in den Nahverkehr bleiben weiterhin aus.

Auch Laura Wahl (MdL) sah einige Verbesserungswünsche an den ÖPNV, etwa eine höhere Taktung und bessere Verbindungen, wobei auch die Preise nicht negiert werden dürften. Vor allem habe das Ticket den Investitionsbedarf aufgezeigt und zu mehr Aufmerksamkeit für das Thema Mobilitätswende in der Öffentlichkeit geführt.

Betont wurde von den Referent*innen die Notwendigkeit des Drucks aus der Bevölkerung,  der aus der stärkeren Wahrnehmung des ÖPNV resultiert. Diese Aufmerksamkeit sei wichtig um gesellschaftliche und politische Mehrheiten auch für andere „verkehrswendetechnische“ Maßnahmen ergreifen zu können, etwa den Ausbau der Infrastruktur.

Kritisiert wurde in diesem Punkt besonders die Rolle Thüringens. Auch wenn die Aufstockung der Regionalisierungsmittel durch den Bund erforderlich sei, so dürfe nicht übersehen werden, dass der Freistaat Thüringen im bundesweiten Durchschnitt sehr viel weniger Mittel zusätzlich bereitstelle. Dieser Anteil müsste deutlich erhöht werden, so Laura Wahl.

Für sie ergab sich vor allem aber die Erkenntnis, dass im Bereich der Verkehrswende nicht alles schrittweise funktionieren müsse. Manchmal sei es auch richtig und wichtig dass Politik sich zu revolutionären Schritten traue.

Aber auch die negativen Seiten, die das 9-Euro-Ticket aufzeigte, wurden nicht übersehen. Beispielsweise, dass das Ticket nicht überall gleichermaßen genutzt werden konnte, da der Ausbau der Infrastruktur besonders in ländlichen Regionen nicht so weit fortgeschritten ist, wie es in Städten der Fall ist. Kritisiert wurde auch der mögliche Einbruch der Nutzerfinanzierung des ÖPNV als Konsequenz eines Nachfolgetickets, da mit dessen Einführung auch andere Ticketpreise in Frage gestellt werden müssten. Die unternehmerische Initiative würde auch nicht mehr wie im bisherigen Umfang stattfinden, da ein Nachfolgeticket eine politische Preisbildung voraussetzt – der Zusammenhang zwischen der Steigerung von Preisen und Qualität könnte ausgehebelt werden, da die Unternehmen nicht mehr nur von der Nachfrage abhängig wären.

Einige Fragen blieben auch nach der Diskussion ungeklärt, auf vieles konnte im Laufe des Abends  aufgrund der Komplexität des Themas nicht eingegangen werden. Man nehme aber den Auftrag mit, das Thema stärker voranzubringen. So wurde auch auf die sich gerade neu gegründete LAG Mobilität verwiesen.

Festzuhalten ist aus diesem Abend, dass es nicht zwingend eine Entscheidung zwischen einem gut ausgestatteten Nahverkehr oder einem preiswerten ÖPNV geben muss. Vielmehr bedingen sich beide Faktoren für eine gut gelingende Mobilitätswende. Die Schlüsse die aus dem „Experiment“ des 9-Euro-Tickets gezogen werden können waren klar: es braucht mehr Gestaltungswillen und manchmal – auch kleine – revolutionäre Schritte für nachhaltige Veränderung.