„Wir geben unheimlich viel Geld für ein System aus, das nur mittelmäßig funktioniert.“

Rückblick vom digitalen Feierabend am 25. Januar 2023: „Kindermedizin am Limit?“

Vor Weihnachten überhäuften sich die Schlagzeilen wegen überlasteter Kinderintensivstationen. Wie es dazu kommen konnte, wie die Lage in Thüringen war und was in der Zukunft passieren sollte, um eine Wiederholung der Situation zu verhindern, diskutierten Johannes Wagner, Bundestagsabgeordneter, Prof. Dr. Axel Sauerbrey, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Helios Klinikum Erfurt und Dirk Rühling, Verband Kinder- und Jugendärzte zusammen mit unserer Landessprecherin Ann-Sophie Bohm.

Die Situation vor der man Ende 2022 stand, so Prof. Dr. Sauerbrey, war maßgeblich durch die hohe Infektionswelle durch das RS-Virus und den Influenza-Viren geprägt. Das habe Kliniken von Oktober bis Dezember vor hohe Herausforderungen gestellt. Der hohe Krankenstand bei den Mitarbeitenden habe auch in seiner Klinik dazu geführt, dass die gesunden Mitarbeitenden über ihren Kapazitätsgrenzen arbeiten mussten. In Thüringen sei die Versorgung mit den Kinderkliniken trotzdem nach wie vor gut, da die flächendeckende, wohnortnahe Betreuung gewährleistet werden konnte. Kinderkliniken seien in große Kliniken eingebettet, wodurch man die Kapazitäten erweitern könne, indem man im Notfall Stationen zusätzlich eröffne.

Dirk Rühling, Kinder- und Jugendarzt in einer Gemeinschaftspraxis, erzählte von seinen Erfahrungen. Es habe zwar in der Vergangenheit ähnliche Situationen gegeben, aber nicht in dem Ausmaß wie zum Jahreswechsel. In den letzten drei Jahren habe es durch die Schutzmaßnahmen vor dem Corona-Virus keine richtige Grippewelle und wenig Atemwegserkrankungen gegeben. Dementsprechend habe diese Grippewelle drei Jahrgänge an Kindern gleichzeitig schwer getroffen.

Trotz allem, so Prof. Dr. Sauerbrey, habe man die Welle gut meistern können, alle haben adäquat versorgt werden können. Aber bestehende Probleme, wie der Mangel des Personals in der Pflege, besonders bei qualifiziert ausgebildeten Kinderkrankenschwestern habe sich auch hier gezeigt. Die Pflege, so Prof. Dr. Sauerbrey, sei ein Beruf in dem man viel nachts und am Wochenende arbeiten müsse, dafür finde man mittlerweile nur noch selten Bereitschaft. Die Vorstellung des Lebensstils vieler Personen sei mittlerweile eine andere. Da sei nicht nur die Bezahlung ein Aspekt. So müssten sich auch Rahmenbedingungen wie mehr Urlaub und flexiblere Arbeitszeitmodelle klar verbessern. Wobei gerade das auch kompliziert sei, wenn man beispielsweise eine Vier-Tage-Woche anbiete, dann würde sich auch der Personalbedarf erhöhen, was nicht funktioniere, wenn man nicht genügend Personen einstellen könne. Wie Dirk Rühling ergänzte, gebe es in der Medizin auch wenig was automatisiert werden könne, die Bedarfe der Menschen seien einfach zu individuell.

Die Sicht aus der Bundesebene vertrat an diesem Abend Johannes Wagner, Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Gesundheitsausschuss. In der Krankenhauskommission, so berichtete er, habe man sich vorgenommen, die stationäre Versorgung zu reformieren. Das Krankenhaussystem honoriere Leistung. Sobald aber die Fallzahlen einbrechen würden, würden Krankenhäuser anfangen Verluste zu machen – das würden gerade 60% der Krankenhäuser in Deutschland tun.

Diese Regelung habe besonders in den Bereichen der Notfallversorgung, Geburtshilfe und der Pädiatrie geschadet, was deutschlandweit zu einem Sterben von Kinderkliniken geführt habe. Dadurch steige der Druck in den Kinderkliniken, Stellen könnten nicht voll nachbesetzt werden und wenn an Personal gespart werde, wie das häufig der Fall sei, sei dieses bis zum Limit belastet. In einigen Gebieten, so Johannes Wagner, habe es in den letzten Monaten wirklich akute Notsituationen gegeben, bei denen lokal nicht behandelt werden konnte.

Die Krankenhausreform sei zwar geplant, werde aber in den nächsten zwei Jahren noch nicht greifen, sie müsse vorbereitet und umgesetzt werden, weshalb man als Überbrückung für die größten Lücken ein Notfallprogramm aufgesetzt habe. Man gebe unheimlich viel Geld für ein System aus, was nur mittelmäßig funktioniere – die Strukturen würden nicht funktionieren. In einigen Gebieten in Deutschland gebe es Überversorgung, während es in anderen Ärzte- und Pflegemangel gebe. Die Schritte bei der stationären Versorgung würden spät kommen, aber sie würden immerhin in die richtige Richtung gehen.