„Solange wir hingucken, gibt es Hoffnung!“ 7. November 202222. November 2022 Rückblick auf den digitalen Feierabend vom 9. November 2022„Iran – Der Anfang einer Revolution?“ Seit etwa zwei Monaten taucht der Name der jungen Kurdin Jîna Mahsa Amini in den Schlagzeilen auf. Über ihren Tod, die momentanen Umstände im Iran und warum das Ende der Islamischen Republik für uns alle bedeutsam wäre, klärten Maryam Blumenthal, Landtagsabgeordnete und Landesvorsitzende der Grünen Hamburg und unsere Landessprecherin Ann-Sophie Bohm auf. Vor etwa zwei Monaten reiste die junge Kurdin Jîna Mahsa Amini mit ihrem Bruder nach Teheran, wo sie aufgrund eines zu locker sitzenden Kopftuchs von der Sittenpolizei, die für die Einhaltung religiöser Regeln verantwortlich sind, festgenommen wurde. Wie Maryam Blumenthal erklärte, erzählt das Regime an dieser Stelle die Geschichte anders, als die die sich verbreitet hat. Im Iran gebe es verschiedene Abstufungen, nach denen man bei einer Verhaftung behandelt werde – je nachdem welchen Namen man trage, zu welcher religiösen oder ethnischen Minderheit man gehöre oder ob man Geld, um sich freizukaufen habe. Bei einer solchen Verhaftung sei es nicht unüblich, dass man in eine Art Belehrungssaal müsse, wo man über die Fehler des eigenen Verhaltens belehrt werde. Eine Videoaufnahme zeigt Jîna Mahsa Amini, wie sie in einem solchen Belehrungssaal das Bewusstsein verliert und weggebracht wird. Offizielle Berichte legen nahe, dass sie Schläge auf den Kopf erhalten habe, die innere Blutungen verursacht haben, worauf sie nach einigen Tagen im Koma verstarb. Wenig später sprachen offizielle Obduktionsberichte von Herzversagen. Kurz nach dem Tod Jîna Mahsa Aminis begannen kurdische Frauen, ihre Kopftücher abzulegen, zu protestieren. Wenig später schlossen sich Männer und Frauen im ganzen Land und über sämtliche Gesellschaftsschichten verteilt, an die Proteste an. Schließlich wurden nicht nur die Forderungen nach Frauenrechten, sondern einem gänzlichen Ende der Islamischen Republik lauter. Das ist, was diese Proteste von jenen die es seit der Bestehen des Regimes im April 1979 immer wieder gab, unterscheide, so erklärte Maryam Blumenthal. Dieses Mal sei es nicht nur eine Bevölkerungsgruppe, eine religiöse/ethnische Minderheit oder Geschlechtergruppe, die demonstriere. Dieses Mal nehme der Querschnitt der Bevölkerung teil. Seit zwei Wochen befinden sich auch die Ölarbeiter im Streik, was ein großer Schritt sei für eines der an Bodenschätzen reichsten Länder der Welt. Momentan hoffe man aber noch besonders auf die Solidarisierung des Militärs und der Bazaris. Hinter diesen stünden ganze Industriezweige und auch wenn sie nicht zur Regierung gehören, profitierten sie maßgeblich vom Regime – eine Solidarisierung mit den Protestierenden wäre also ein großer Schritt. Auch wenn sich noch nicht alle im Generalstreik befänden, hätten die Menschen den gemeinsamen Nenner erkannt und würden zusammenstehen – was in einem Vielvölkerstaat wie im Iran etwas wahnsinnig Bedeutsames sei. Schon vor der Islamischen Revolution von 1979 habe die Frau im Zentrum der aggressiven Staatspolitik gestanden, wenn auch auf andere Weise. So durften Frauen kein Kopftuch tragen, selbst wenn sie das wollten. Mit der Islamischen Republik wurden die Frauenrechte weiter extrem eingeschränkt. Vor Gericht ist die Stimme einer Frau nur halb so viel wie die eines Mannes wert. Es bräuchte also zwei Frauen, damit die Aussage gleichwertig mit der eines Mannes wäre. Aufgrund der „Emotionalität“ von Frauen dürften sie keine Richterin werden, erhielten kein Sorgerecht für ihre Kinder, hätten keine Freiheit über ihren Aufenthalt, kein Scheidungsrecht. Maryam Blumenthal erklärte sich die Solidarisierung der Männer mit dem Fakt, dass jeder sehe, was (nicht erst seit zwei Monaten) im Land passiere. Jeder habe eine Mutter oder Schwester. Es gebe auch genügend andere Gründe zu protestieren, seit 43 Jahren würden die Menschen zunehmend an die Wand gedrückt. So leben 80% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die Hinrichtung Minderjähriger legal, queere Menschen, sowie religiöse und ethnische Minderheiten massiv unterdrückt. Zudem sei die Wirtschaft heruntergekommen, die Sanktionen der letzten Jahre hätten die Bevölkerung hart getroffen, während das Regime davon profitierte. Das alles bringe das Fass zum Überlaufen. Eine feministische Revolution – von Frauen und Minderheiten angeführt und von den Möglichkeiten, die die Digitalisierung biete, unterstützt. Etwas dieser Art habe es in den letzten Jahren auch nicht gegeben, dass der Westen alles über Bilder und Videos mitbekomme und nicht wegsehen könne. Trotz aller Widrigkeiten, die den Protestierenden in dieser Hinsicht in den Weg gelegt würden, etwa durch Drosselung des Internets, fänden sie ihre Wege Informationen zu verbreiten. So wisse man, obwohl es keine normale Presseberichtserstattung gebe, dass in den vergangenen zwei Monaten etwa 200 Menschen aufgrund der Demonstrationen ermordet worden sind, mehrere Tausend inhaftiert. Darunter besonders viele junge Frauen, auch Minderjährige. Im Iran, so Maryam Blumenthal, gleiche die Inhaftierung einem Todesurteil. Dort bedeute es extreme Folter und in die Drogenabhängigkeit gezwungen zu werden. Dafür gebe es spezielle Foltergefängnisse, eines davon das Evin-Gefängnis, welches unter den Iraner*innen „Elite-Universität“ genannt werde. Dort sitze die intellektuelle Elite, also Studierende, Journalist*innen oder oppositionelle seit Jahrzehnten ein. Vor einigen Wochen stand das Gefängnis in Brand. „Man hat versucht, sie bei lebendigem Leibe zu verbrennen.“ Wie Maryam Blumenthal erklärte, platzte das Gefängnis aus allen Nähten. Und das wichtigste Machtinstrument der Islamischen Republik sei seit 43 Jahren Angst. Nahezu alle Exil-Iraner*innen hätten eine traumatisierende Familiengeschichte mit dem Gefängnis, das für seine grausamen Foltermethoden berüchtigt sei. Eine Foltermethode sei es etwa, Menschen zu verletzen und ihnen dann Heroin in die Zelle zu geben, um sie so in die Drogenabhängigkeit zu treiben. Und trotz allem, trotz der erschreckenden Bilder von der umstellten Sharif-Universität, von den gewaltsamen Protesten, gehen die Menschen noch immer auf die Straße. Maryam Blumenthal berichtete, man sehe im Iran viele Eltern, die an den Gräbern ihrer ermordeten Kinder trauern, weinen und singen. Und am nächsten Tag noch lauter gegen das Regime protestieren. „Das Einzige, was die Menschen am Leben hält, ist das wir hier nicht weggucken. In dem Moment, in dem wir anfangen wegzugucken, wird das Regime anfangen, Menschen in Massen zu ermorden. Dann wird es den Menschen noch viel schlechter gehen als je zuvor und alle Toten, all das Leid, all der Mut wird umsonst gewesen sein. Solange wir hingucken, gibt es Hoffnung.“ Niedrigschwellig könne jeder, besonders mit nicht iranisch stämmigen Menschen, über die Geschehnisse sprechen und zu Demonstrationen gehen. Diese Revolution bedeute nicht nur den Menschen im Iran etwas, sondern auch denen außerhalb, erklärte Maryam Blumenthal. Exil-Iraner*innen, also alle die sich jemals kritisch über die Politik geäußert haben, dürfen den Boden Irans nicht mehr betreten. Und was für ein brennender Schmerz der Verlust der Heimat sei, das könne man erst wissen, wenn man es einmal erlebt habe. Auch für die globale Sicherheit, besonders Israel, sei das Ende der Islamischen Republik von Bedeutung, man wisse mittlerweile, dass aus dem Iran heraus Terrorismus vorbereitet, finanziert und ausgeführt werde. Unsere Aufgabe sei es, uns bewusst zu machen, was das alles mit uns zu tun habe und dann aus intrinsischer Motivation darüber, Druck zu machen. So sprach Maryam Blumenthal sich für eine harte Sanktionsliste gegen die Profiteure des Regimes aus. Das seien etwa die Parlamentarier*innen, die dort gerade den Beschluss gefasst haben, verurteilte Demonstrant*innen hinzurichten. Das beträfe, sollte dieser Entschluss durchgesetzt werden, ca. 14.000 Menschen. Natürlich sei es inmitten multipler Krisen schwierig, aber, so begründete Maryam Blumenthal, wenn man es ernst meine mit feministischer Außenpolitik und unserem Verständnis von Demokratie, so müsse man auch diese Krise aushalten.