Mythos Chancengleichheit – Wie geht gerechte Förderung für alle Kinder?

Rückblick vom Digitalen Feierabend am 5. Januar 2022: „Mythos Chancengleichheit – Wie geht gerechte Förderung für alle Kinder?“

Jedes Kind hat das Recht auf adäquate Förderung seiner Entwicklung. Gerade im frühkindlichen Bereich ist das besonders wichtig. Doch gelingt das ausreichend? Was ist, wenn die Eltern damit überfordert sind, kindliche Signale zu erkennen oder angemessen darauf zu reagieren?

Jedes dritte Kind erhält bereits im Vorschulalter mindestens eine medizinisch-therapeutische Maßnahme. Die meisten kommen aus gebildeten Mittelstandsfamilien. Gleichzeitig haben 25% bei der Einschulung als »auffällig« eingestuften Kinder zuvor nie Hilfen erhalten. Sie kommen häufig aus sozial benachteiligten Milieus. Das zeigt: Die bestehenden Hilfen erreichen nicht alle Kinder, die wirklich Unterstützung brauchen. Gleichzeitig wachsen die Ausgaben für Jugendhilfe, das Gesundheitswesen und Leistungen zur Teilhabe enorm an.

Wie viel Chancengleichheit kann das bestehende System der Frühförderung und frühen Hilfen überhaupt herstellen? Was muss getan werden, um allen Kindern eine altersgerechte Entwicklung zu ermöglichen? Und welche Rolle spielen die Eltern dabei, welche die sozialen Institutionen, Politik und Verwaltung? Darüber sprach unsere Landessprecherin Ann-Sophie Bohm beim digitalen Feierabend am 5. Januar 2022 mit Prof. Armin Sohns, Professor für Heilpädagogik und Leiter des „Kompetenzzentrum Frühe Kindheit“ (KFK) an der Hochschule Nordhausen und Carsten Nöthling, Geschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbund Thüringen.

Mit seinem Modellprojekt KFK hat Armin Sohns an der Grenze zu Thüringen ein Projekt in die Wege geleitet, von dem sich unser Bundesland viel abschauen könnte: Ein niedrigschwelliges Beratungsangebot mit Inklusionsanspruch, zudem ein Gesamtkonzept im Bereich frühkindlicher Bildung in enger Zusammenarbeit mit Fachkräften und Eltern. Sohns ist fest davon überzeugt, dass in der Inklusion und Frühförderung eine Menge Verbesserungspotenzial herrscht. Die Gelder müssten nur gezielt in eine Veränderung investiert werden: Seiner Meinung nach fängt diese Veränderung bei der Fusion der verschiedenen Parallelsysteme an. Er hält es für wichtig, dass in der frühkindlichen Förderung Kinderärzt*innen, Therapeut*innen und Pädagog*innen zusammenarbeiten. Nur so könne eine adäquate Behandlung bereits als Präventionsmaßnahme veranlasst werden.

Denn diese sollte aus Sicht Sohns und auch aus der von Carsten Nöthling bereits weit vor dem Kita-Alter beginnen, um Entwicklungsmängel vorzubeugen: Bereits im ersten Lebensjahr kann eine Förderung sehr hilfreich sein. Die erste Fachexpertise holen sich die Eltern in der Regel vom Kinderarzt, deshalb muss auch dieser in den frühen Hilfen eingebunden sein. Die wertvolle Zeit der Kinderärzt*innen möchte Sohns mithilfe von Finanzierung vom Land einholen.

Für eine erfolgreiche Behandlung braucht es laut KFK allerdings auch responsive Fachkräfte: die Betreuer*innen und Sozialpädagog*innen müssen individuell auf die Entwicklungsgefahren der Kinder eingehen, um einen Förder- und Therapiebedarf zu verhindern.

Das aktuelle System sorge jedoch für ein ganz anderes Bild: Denn auch ohne die enormen bürokratischen Hürden wären die frühen Hilfen in Thüringen kaum umsetzbar: Es mangele an Fachkräften. Die bestehende Infrastruktur in Frühförderung konkurriere zudem bei den wenigen Kindern, die erreicht werden. Förderung und Prävention werden kaum betrieben, oft wird eine Behandlung erst in der Kita aufgenommen (mit mindestens drei Jahren), wo die Intelligenz des Kindes bereits weit fortgeschritten ist. Auf diese Weise bleibt Chancengleichheit leider wirklich nur ein Mythos.

All die Resultate aus dem Modellprojekt der Hochschule Nordhausen könnten für eine gleichere Ausgangslage bei Kindern im Kitaeintrittsalter sorgen, sagt auch Christian Nöthling: Es brauche neben dem Jugendamt, denen viele eher mit Angst als mit Offenheit begegnen würden, vertrauliche frühe Hilfen mit genügend Fachkräften. Nur so könne man individuelle Behandlungen und ausreichend Coachings für die Eltern gewährleisten. Diese Leistungen können zudem nur sozial verträglich sein, wenn man sie mit den Krankenkassen finanziere.

Aus der Sicht von Armin Sohns sind die Schwachstellen der frühkindlichen Behandlungen nur politisch zu lösen, da die Verwaltungen von ihrem eigenen politischen Konzept überzeugt seien. Er wünsche sich dabei kommunalpolitische Akzente.